Die Schlafenden, die so liegen,
schmeicheln ihren Verkürzungen

Lily Wittenburg
11. December 2021 — 12. March 2022
/English version below/

Wir freuen uns sehr, die vierte Einzelausstellung von Lily Wittenburg bei KM, Die Schlafenden, die so liegen, schmeicheln ihren Verkürzungen, anzukündigen.

Wie bereits in früheren Ausstellungen kehrt Lily Wittenburg den klassischen Begriff des künstlerischen Schaffens um, in dessen Rahmen die Akteurin oder der Akteur in der Regel vorgeben, wie ein Bild auszusehen hat. Diese Entscheidung trifft sie in einem dialogischen Verhältnis mit dem Material – allerdings nicht ohne bestimmte Parameter festzulegen, beispielsweise die Auswahl des Untergrunds, das Format, den Rahmen oder die Hängung.

Der Fries von gleichen Formaten formt ein dem menschlichen Maß entlehntes, sich wandelndes Gegenüber, dem man sich aussetzt, mit dem man in Kontakt tritt – die Künstlerin ebenso wie die Betrachterinnen und Betrachter. Die monumentale Stele, senkrecht auf dem Boden stehend, nimmt scheinbar die Vielgestaltigkeit und Farbigkeit des Bodens auf und lädt so den gesamten Raum mit dem Dialog der Materialprozesse auf. Unterschiedliche Farben und Substanzen prallen aufeinander, vermischen sich, zerfressen sich, stoßen sich ab, schieben sich ineinander, verlaufen, geben frei oder verdecken. Die Fließgeschwindigkeiten variieren, an einem Moment erstarren die Flüssigkeiten und doch scheint es, als deuteten sie auf ihren nächsten Aggregatzustand hin. An der Grenze zwischen Kontrollierbarkeit und den Eigendynamiken der Flüssigkeiten wie Lacke, Säuren, Acrylfarben, Chemikalien oder Klebstoffen beobachtet Wittenburg aufmerksam, was passiert und greift minimal ein. Was verbindet die Oberflächen? Was braucht das Material? Mit der Haltung einer Amateurin, die nicht wissen will, wie es richtig geht, erforscht die Künstlerin Abläufe und bringt Prozesse in Gang, die sie nicht voraussagen kann. Verdrängungsprozesse werden sichtbar, scheinbar unauflösbare Spannungen bauen sich auf. Die Künstlerin schafft keine Abhilfe, dies zu ändern. Die Konfrontation mit diesen Zuständen liegt allein bei der Betrachterin oder dem Betrachter. Auch sie müssen es aushalten.

In das Fries eingebunden sind drei Zeichnungen. Sie scheinen gleichzeitig fokussiert und rastlos und lassen etwas dahinter liegendes spüren. Jede Linie steht eigenständig für sich. Geschwindigkeit lenkt die Leerstellen auf dem Blatt in einem langen rhythmischen Prozess. Störungen im Fluss der Tinte schaffen Raum für diese Leerstellen. So sind die Zeichnungen ebenso bestimmt wie offen.
Die neuen Bilder befinden sich in einem Näheverhältnis zu Text und Sprache, sie ergänzen die Sprache dort, wo es keine Worte für das Gezeigte gibt. Die Besucherin oder der Besucher kann einen Kopfhörer aufsetzen und ein zwanzigminütiges Audiostück der Künstlerin anhören. Ausgleich und Balance schaffen in diesen Werken allein die Setzungen von Zwischenräumen oder Pausen. Sprache ist ein wichtiger Faktor in dem Prozess. Aus diesem Tätigsein zusammen mit dem Material öffnet sich der Künstlerin ein sprachlicher Zugang. Die Beobachtung zerschiesst ihre Sprache. Etwas Unaussprechlichem wird sich angenähert. Wie geht es weiter? Was passiert im Kopf? Stehen Bilder oder Sprache im Vordergrund?

Im Dialog mit dem Material nutzt Wittenburg ihren "taktilen Instinkt, eine immersive Beziehung, die den optischen Sinn durch Berührung, Handhabung, Geruch, Kontemplation, Liebe und Imagination ergänzt, und als jemand, der das Objekt als affektiven "Schlag" auf das Sensorium erlebt.“

Eigene Gedichte veröffentlichte Lily Wittenburg zum ersten Mal 2020 in ihrem Künstlerinnenbuch "Den Kern der Täuschung verfehlen“.


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We are pleased to announce the fourth exhibition of Lily Wittenburg at KM entitled Die Schlafenden, die so liegen, schmeicheln ihren Verkürzungen (“The sleepers lying like this flatter their shortenings”).

As in earlier shows, Lily Wittenburg reverses the classical concept of artistic work, in the frame of which the artist usually predetermines how a picture is supposed to look. Wittenburg, in contrast, makes this decision in a dialog with the material—but not without determining certain parameters, for example, the selection of the ground, the format, the frame, or the hanging.

The frieze of identical formats creates a shifting vis-à-vis alluding to the human scale, which both the artist and the viewers are exposed to and make contact with. The monumental stele standing vertically on the floor appears to take up the floor’s variety and coloring, thus charging the entire space with the dialog of the material process. Different colors and substances clash, mix with each other, corrode and repel each other, merge, dissolve, reveal or conceal. The flow velocities vary, at times the liquids freeze, and yet it appears as if they were already indicating their next aggregate state. At the border between controllability and the inherent dynamics of the liquids, including enamels, acids, acrylic paints, chemicals, or glues, Wittenburg attentively watches what happens and intervenes in a minimal way. What connects the surfaces? What does the material require? With the attitude of an amateur who doesn’t want to know how to do it correctly, the artist explores developments and initiates processes she cannot predict. Processes of displacement become visible, seemingly irresolvable tensions mount. The artist does nothing to change this. The confrontation with these states lies solely with the viewers. They too must endure them.

Integrated in the frieze are three drawings. They appear at once focused and restless, letting one sense that there is something behind them. Each line is independent. Velocity directs the voids on the sheet toward a long rhythmical process. Interruptions in the flow of the ink create room for these voids. The drawings are therefore as determined as they are open.

The new pictures stand in a close relationship with text and language, they complement language where there are no words for what is shown. The visitors can put on headphones and listen to a 20-minute audio piece by the artist. The only thing that offers conciliation and balance in these works is the positing of interstices or pauses. Language is an important factor in this process. For the artist, this activity and the material provide a linguistic access. The observation shoots her language to pieces. Something inexpressible is approached. How will things proceed? What takes place in the mind? What is at the fore: the pictures or language?

In a dialog with the material, Wittenburg uses her “tactile instinct, an immersive relationship that complements vision with touch, handling, smell, contemplation, love, and imagination, and as someone who experiences the object as an affective ‘blow’ to the senses.”

Lily Wittenburg published her poems for the first time in 2020 in her artist’s book “Den Kern der Täuschung verfehlen.”